BaZ: Am Montag wurde die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative im Nationalrat bereinigt. Was wird sie in Bezug auf die Zuwanderung bewirken?
Marco Romano: Nichts. Das, was beschlossen wurde, ist wirkungslos.

Wieso?
Wir werden das spätestens in fünf Jahren sehen. Zuerst gibt es jetzt eine riesige bürokratische Übung, nur schon bis sich Bund, Kantone und Sozialpartner mit den unterschied­lichsten Interessen auf die nötigen Verordnungen geeinigt haben. Der Bundesrat hat entschieden, dass das Parlament nur noch konsultiert wird und nichts dazu zu sagen hat. Das Parlament selber hat vorgestern dar­auf verzichtet, bei dieser wichtigen Frage mitzureden. Das finde ich einen grossen Fehler. Es ist absehbar, dass die Verordnungen dann so ausgestal­tet werden, dass gar nie wirksame Massnahmen eingeführt werden.

Entspricht das dem Willen des Parlaments?
Die Mehrheit von FDP und SP haben kein Interesse daran, dass dieses Gesetz irgendwann wirklich ange­wendet wird. Und sie haben ihr Ziel erreicht. Vielleicht irre ich mich, dann spendiere ich Ihnen ein gutes Nachtessen.

Warum sind Sie sich so sicher?
Vor allem, weil als Auslöser für Mass­nahmen einzig und allein die Arbeits­losigkeit definiert wurde. Dies ist absurd, weil der Bundesrat und ins­besondere FDP­Wirtschaftsminister Johann Schneider-­Ammann und seine Partei seit Jahren sagen, es gebe gar kein Problem mit der Arbeitslosig­keit. Jetzt bauen wir ein System auf, das nur Massnahmen möglich macht, wenn es zu einer hohen Arbeitslosig­keit kommt.

Sie wollten etwas anderes.
Die CVP hat vorgeschlagen, dass es auch um jene Elemente gehen muss, die bei der Abstimmung über den Verfassungstext wichtig waren, nicht nur, aber auch im Tessin: die Zuwande­rung allgemein und besonders die Grenzgänger. Es gibt Druck auf die Löhne, der von der Einwanderung verursacht wird, und einen Verdrän­ gungseffekt auf dem Arbeitsmarkt. Im Tessin stellen Unternehmer Grenz­gänger an, einfach weil sie viel weni­ger kosten. Mit diesen tieferen Löhnen kann aber niemand im Tessin leben.

Was bedeutet das politisch, wenn bis zu den nächsten Wahlen 2019 keine Wirkung ersichtlich ist?
Tendenziell nimmt die Einwande­rung momentan ab. Aber das hat mit den Beschlüssen des Parlamentes nichts zu tun. Das ist eine Folge der Konjunktur. Auf der anderen Seite bestehen die Probleme, die zur Annahme der Masseneinwande­rungs­Initiative geführt haben, auch heute noch. Sie verschärfen sich sogar. Momentan sehen wir im Tessin den Verdrängungseffekt vor allem im Dienstleistungssektor, also bei Sekre­tärinnen oder Sachbearbeitern im kaufmännischen Bereich. Dort kommt das Personal zunehmend aus dem Ausland. Das ist die Realität, trotz der jetzt weniger starken Ein­wanderung. Daran ändert die jetzige Vorlage nichts. 2019, beim nächsten Wahlkampf, müssen sich die Parteien und aber auch die Medien die Frage stellen: Hatte diese gesetzgeberische Übung eine Wirkung? Ich bin für die Sache natürlich froh, wenn es dann rauskommt, dass wir von der CVP uns da falsch positioniert haben. Doch das, was man jetzt auf dem Tisch hat, deutet darauf hin, dass Gesetz so nie wirklich greifen wird.

Weshalb zielten FDP und die SP auf eine Ihrer Meinung nach wirkungslose Umsetzung?
Das müssen Sie natürlich diese zwei Parteien fragen. Doch diese Kompro­misslosigkeit und Arroganz der letz­ten Wochen haben mir klar gezeigt, dass sie kein Interesse daran hatten, konkrete Massnahmen, also zum Beispiel weitere Auslösefaktoren für die Massnahmen, in die Umsetzung aufzunehmen. Es schien so, dass alles schon im Vorhinein mit der Verwal­ tung – auch mit der europäischen Verwaltung – abgestimmt und vorge­schrieben wurde. Da wurde einfach etwas verfasst, damit die Problematik schon im ersten Jahr der Legislatur vom Tisch ist. Das Kalkül ist wohl, dass man so die SVP marginalisiert.

Wie sehen Sie die Rolle der CVP in der ganzen Umsetzungsdebatte?
Niemand kann uns kritisieren, dass wir nicht schon von Anfang an klar gesagt haben, was wir wollen. Denn bereits in der ersten Beratung im Nationalrat hatten wir gesagt, dass uns das Vorgeschlagene nicht reicht. Gerhard Pfister (ZG), Ruth Humbel (AG) und ich hatten Anträge gebracht, um das Ganze zu verschärfen. Wir wollten einen Mittelweg zwischen Verfassungsbestimmung und dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) formulieren, der so nahe am FZA ist wie nur möglich, ohne dieses kom­plett zu verletzten.

FDP-Präsidentin Petra Gössi hat die CVP deswegen scharf angegriffen. Sie meinte, die von der CVP portierte Lösung sei eine «Verarschung des Sou- veräns», da damit auch die bilateralen Beziehungen zur EU gefährdet würden. Sehen Sie das nicht so?
Ich glaube, Petra Gössi sollte mit ETH­Professor Michael Ambühl, sei­nes Zeichens ehemaliger Staatssekre­tär sprechen. Denn was wir in die Kommission eingebracht haben, war ein Bottom­up­Modell, das per se nicht FZA­widrig ist. Und dieses Modell ist stark von jener Idee geprägt, die Professor Ambühl vorge­stellt hat. Wenn es jemanden in die­sem Land gibt, der in der letzten Zeit etwas mit der EU erreicht hat, dann ist es Professor Ambühl. Daher kann man seinem Lösungsansatz durchaus vertrauen. Aber grundsätzlich sagte unser Modell immer, dass auch Mass­ nahmen getroffen werden können, die das FZA ritzen. Diese Massnah­men wären dann jedoch regional, auf Berufsgruppen beschränkt und zeit­lich befristet gewesen. Und eine sol­che Möglichkeit wurde bereits im Jahre 1999 von der EU akzeptiert, denn im FZA spricht man explizit von der Möglichkeit, dass in besonderen Situationen Massnahmen ergriffen werden können. Was momentan in Genf und im Tessin passiert, wo ja Massnahmen getroffen wurden, die nicht zu 100 Prozent dem FZA ent­sprechen, ist ein gutes Beispiel dafür, dass es durchaus Spielraum gibt. Zwar haben sich Frankreich und Ita­lien beschwert, aber letztlich müssen sie diese Massnahmen akzeptieren. Lokale Massnahmen, die nicht das ganze Konstrukt der Bilateralen infrage stellen, sind also möglich. Die Kritik von Petra Gössi ist daher total fehl am Platz.

Aber Sie stellen das Freizügigkeitsabkommen schon infrage.
Wenn man unser Modell nur deswe­gen kritisiert, weil es nicht hundert­prozentig FZA­kompatibel sei, dann sollte man vielleicht am FZA selbst arbeiten. Dann werden die FDP und Petra Gössi behaupten, dass die EU nicht daran arbeiten wolle. Wohl zu Recht. Doch genau deshalb wollten wir das Gesetz so aufbauen, dass das FZA nur geritzt wird. Diese Lösungen hätten wir nach Brüssel schicken kön­nen. Das meinte auch Herr Ambühl mehrmals öffentlich: Man müsse etwas Konkretes unterbreiten, damit dann im Anschluss verhandelt wer­ den kann. Verhandeln ohne eigene Position ist einfach nicht möglich. Und das Parlament hat nie eine Posi­tion gehabt. Heute auch nicht, weil das entstandene Gesetz nicht mit der Verfassungsbestimmung zu tun hat.

Von aussen hat man den Eindruck, die jetzige Lösung wurde von langer Hand vom Bundesrat eingefädelt.
Über alles gesehen war der Bundesrat sehr schwach. Man kann hier ruhig von einer Kakofonie sprechen. Da war zum Beispiel Bundesrat Schnei­der­-Ammann (FDP), der meinte, das Modell Ambühl sei top. Dann hiess es plötzlich von Didier Burkhalter (FDP): Wir sind nahe an einer Lösung mit der EU. Daraufhin meldete sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP), die meinte, dass die EU jetzt doch nicht mit uns reden wolle. Kurzum: Sie haben zwei Jahre lang nichts Zählbares zustande gebracht. Am Ende kam dann ein Vorschlag, der nicht vertretbar war. Daraufhin hat sich das Parlament an die Arbeit gemacht. Und ich glaube, dass in diesem Moment diese arrogante und parteipolitisch absurde Allianz zwischen FDP und SP entstand, um einfach eine Vorlage ins Trockene zu bringen, damit das Thema dann vom Tisch ist. Der Gesamtbundesrat hat meiner Meinung nach Bundesrätin Sommaruga zu viel Handlungsspiel­raum gegeben. Die jetzige Vorlage kommt am Freitag zur Schlussabstim­mung, ohne dass sich der Bundesrat als Rat überhaupt einmal positioniert hat. Es ist jetzt halt einfach ein Gebas­tel der Parlamentsmehrheit von FDP und SP zusammen mit der Bundes­ verwaltung.

Was ist für Sie das Absurde an der Koalition FDP–SP?
Auf der einen Seite haben wir eine Partei, die SP, die die Situation jetzt ausnützen wird, um weitere arbeits­marktrechtliche Massnahmen einzu­ führen. Das hat man sehr klar gese­hen. Und der Ansatz der SP ist hierbei ein nationaler Ansatz: Die Partei hat kein Interesse, die Probleme im Süden, also im Tessin, anders zu lösen als in Genf. In Basel gibt es beispiels­weise keine grösseren Probleme mit den Grenzgängern und da soll meiner Meinung nach auch nichts passieren. Diese regionale Sichtweise hätte der CVP­Vorschlag ermöglicht. Die SP will jetzt einfach auf nationaler Ebene den Arbeitsmarkt weiter regulieren. Aber das finde ich nicht zielführend.

Und seitens der FDP?
Die FDP hat vermutlich nicht die gleichen Ideen wie die SP, aber die ganze Situation ausgenützt, um sich parteipolitisch als Beschützerin der bilateralen Verträge aufzuspielen. Die beiden Parteien FDP und SP haben total unterschiedliche Ziele. Das hat auch die Arbeit in der Kom­mission gezeigt. Doch letzten Endes haben sie das gegenseitig akzeptiert, mit der Gewissheit, dass sie so beide etwas haben, mit dem sie sich profi­ ieren können. Aber das Interesse war nie, einen Verfassungsartikel umzu­setzen, Befürchtungen ernst zu neh­men und etwas zu bewirken. Das finde ich arrogant. Aber ja, FDP und SP haben ein gewisses gemeinsames Interesse gefunden, ohne dass dieses etwas mit den Problemen in Land zu tun hat.

Auch die SVP hat die CVP mit ihren Anträgen im Nationalrat alleine gelassen.
Ja, die SVP wollte halt eine möglichst strenge Umsetzung. Es war aber von Anfang an klar, dass diese Position im Rat keine Mehrheiten finden wird. Die SVP hat die CVP aber in einigen Anträgen unterstützt. Und da sieht man dann den Unterschied (ob ihn auch Petra Gössi schon sieht, weiss ich zwar nicht, aber ich habe noch Hoffnung): Die CVP hat nie gesagt, eine strikte Umsetzung der Massen­einwanderungs­Initiative sei das Ziel. Wir haben immer gesagt, dass wir für einen Mittelweg sind, der dort die Zuwanderung steuert, wo diese auch Probleme bereitet.

Wie ist die Stimmung im Tessin?
Man kennt die konkrete Umsetzung jetzt erst seit gestern. Aber heute hat sich auch die Tessiner Regierung zum ersten Mal dazu geäussert: Sowohl FDP­Staatsrat Christian Vitta als auch CVP­Staatssrat Paolo Beltraminelli haben gesagt, dass diese Vorlage keine Verbesserung für das Tessin bringen wird. Herr Vitta hofft zwar noch auf den Absatz 8 des Umsetzungsgesetzes, wo die Kantone beim Bundesrat zusätzliche Massnahmen beantragen können. Aber wir haben ja in den letzten zehn Jahren gese­ hen: Jedes Mal, wenn die Kantone etwas beim Bundesrat beantragten, kam ein Nein aus Bundesbern zurück. Und deshalb haben wir jetzt diese absurde Situation, dass wir im Tessin und in Genf Massnahmen haben, die mit dem FZA nicht zu 100 Prozent kompatibel sind, aber trotz Wider­stand des Bundesrates weitergeführt werden. Ich glaube, dass in den nächsten zwei bis drei Jahren die Stimmung im Tessin noch kritischer als jetzt schon werden wird – auch gegenüber Bern.

Intervista a cura di Dominik Feusi e Michael Surber, pubblicata su Basler Zeitung, 14.12.2016

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