Der Tessiner CVP-Nationalrat Marco Romano über den Sprachenstreit, eine weitere ETH in Lugano und die Vorteile des Studiums in einer anderen Landessprache.

Welche Fremdsprachen lernen die Tessiner Schulkinder?
Fremdsprachen? Landesprachen! Die Tessiner Jugendlichen kommen zuerst mit den zwei offiziellen Landesprachen in Kontakt: Französisch, dann Deutsch, und darauf baut der Englischunterricht auf. Die Sprachenvielfalt der Schweiz ist im Tessin eine gelebte Realität – eine Chance und kein Hindernis. Leider entwickelt sich die Situation im Rest der Schweiz anders, und das muss zu denken geben. Wollen wir ein mehrsprachiges Land mit isolierten und undurchlässigen Sprachregionen?

Das Tessin erfüllt damit bereits einen Vorschlag des Fribourger Syndic Thierry Steiert. Er fordert, dass erst die Landessprachen gelernt werden. Begründung: Wer Deutsch und eine lateinische Sprache beherrsche, lerne Englisch sehr viel leichter. Was halten Sie davon?
Der IQ der Tessiner ist im Durchschnitt nicht höher als andernorts. Auch die deutsch- und die französischsprachige Schweiz könnten sich etwas Mühe geben. Es geht um die gegenseitige Verständigung und dies nicht auf Englisch! Der Artikel 4 der Bundesverfassung sagt ganz klar, welches die Landesprachen der Schweiz sind. Eine Vernachlässigung dieser Vorgabe führt leider zu Sprachkonflikten. Darum ist eine politische Reaktion, das heisst ein Engagement zugunsten eines Kernelements unseres Staates, absolut dringend.

Das Italienische ist von jeher noch marginalisierter als das Französische. Haben Sie einen Tipp für die Romands, wie sie ihre Positionen besser durchbringen könnten?
Sehen Sie, der Sprachenstreit ist bereits Tatsache. Eine weitere Zuspitzung ist problematisch und gefährlich. Es geht nicht um Fehler oder Tipps, sondern um ein Verständnis für die Schweizer Vielfalt der Sprachen und der Kulturen. Für die Minderheiten ist diese eine Chance. Je grösser eine sprachliche Gruppe wird, desto weniger besteht die Notwendigkeit der Beherrschung der anderen (in diesem Fall Landes-)Sprachen. Was heute als Last erlebt wird, birgt ein riesiges Potential in sich. Seien wir ehrlich: Die ersten Widersprüche zeigen sich in der Deutschschweiz. Ist dort die Landessprache Deutsch oder Schwyzerdütsch? Die Antwort muss im Norden der Alpen gegeben werden. Sollen wir die Verfassung ändern?

Wie unterstützt das Tessin im aktuellen Sprachenstreit die Romandie? Gibt es keine Allianz der Lateinischsprachigen?
Wo ist heute das Problem? Wo streichen die Kantone den Französischunterricht und wo ist Italienisch in den Schulen fast verschwunden? In der Deutschschweiz! Das Problem liegt nicht im Tessin und in der Romandie, wo verbreitet und vertieft Deutsch gelehrt wird. Die Deutschschweiz muss sich die Frage stellen, welche Sprachen für ihre Kinder und die Zukunft des Landes wichtig sind. Wir brauchen eine staatspolitische Antwort zum Verhältnis zu den Minderheitssprachen. Die Tendenz geht in Richtung Abtrennung. Mit welchen Folgen?

Was heisst das für die Tessiner Anliegen im Bundesrat, wo seit dem Rücktritt von Flavio Cotti vor 17 Jahren kein Vertreter der Südschweiz mehr einsitzt?
Tessiner Anliegen sind Schweizer Anliegen, genauso wie auch die Anliegen der Appenzeller und Waadtländer. Bitte sagen Sie nicht, der fehlende Bundesrat sei ein Tessiner Problem, andere Kantone hatten noch nie einen Bundesrat. Der Bundesrat muss sich für die gesamte Schweiz einsetzen. Problematisch wird es erst dann, wenn eine Sprachgemeinschaft für lange Zeit nicht in der Landesregierung vertreten ist. Eine Generation ist fast vorbei, die Verbundenheit der Italienischsprachigen zu Bundesbern und zum Bundesrat schwächt sich immer weiter ab. Es ist eine schleichende Trennung. Die italienischsprachige Schweiz – eine offizielle Sprache, nicht nur eine Region – ist nicht mehr Teil der Regierung. Unser Land – als Willensnation – stützt sich auf Heterogenität und Respekt für die Minderheiten. Wie will man den Bürgern erklären, dass eine Landessprache mehrere Jahrzehnte in der Bundesregierung nicht präsent ist?

Fühlt sich das Tessin seither in Bern schlechter repräsentiert oder benachteiligt? Was sind konkret die Konsequenzen?
Physische Absenz kann zur Folge haben, dass gewisse Informationen fehlen und man weniger Beachtung erhält. Italienisch ist in der Verwaltung und an offiziellen Anlässen irrelevant geworden. Die Zahl italienischsprachiger Kaderleute in der Verwaltung ist auf dem absoluten Tiefpunkt. Die Beziehungen mit Italien leiden darunter, dass im Bundesrat eine Vertretung mit italienischer Muttersprache fehlt. In Rom verhandelt man auf Englisch.

Das Tessin verfügt über eine eigene Universität. Hat das die Wettbewerbsfähigkeit des akademischen Nachwuchses in der Restschweiz verbessert?
Die Università della Svizzera italiana (USI) ist seit 20 Jahre eine Institution, die das Tessin mit dem Rest der Schweiz und dem Ausland verbindet. Es ist keine «eigene» Universität, sondern ein Akteur des nationalen akademischen Netzwerkes. Mit einem Mix von Studenten aus unterschiedlichen Kantonen und Ländern, als einzige italienischsprachige Universität ausserhalb Italiens, bestens vernetzt mit anderen Universitäten und den ETHs, hat sich die USI als Nische in der Schweizer Uni-Landschaft positioniert. Man müsste den Mut haben, laut über eine Eidgenössische Technische Hochschule im Tessin nachzudenken. Wieso neben Lausanne und Zürich nicht auch eine ETH in Lugano? Echt schweizerisch!

Wie attraktiv sind die ETH und die Universitäten in der übrigen Schweiz für die Tessiner Studenten?
Für mich sind sie ein Muss: Ein Tessiner muss in einer anderen Landessprache sein Studium absolvieren. Eine Herausforderung, die beruflich und privat nur Chancen bietet! Wir sprechen nicht nur von einem Semester, sondern einem gesamten Studium in einer anderen Landessprache. Generationen von Tessinern haben es so erlebt, und davon sollte sich auch der Rest der Schweiz inspirieren lassen.

Welchen Einfluss wird die Eröffnung des Gotthardbasistunnels für das Tessin haben?
Distanzen trennen, Tunnels verbinden. Ich bin zuversichtlich, dass die NEAT das Tessin mit dem Rest der Schweiz im besten Sinn besser verbinden wird. Trotz relevanter kultureller und sprachlicher Unterschiede wird es eine grössere Verbundenheit mit der Bevölkerung nördlich der Alpen geben. Was daraus entstehen wird, müssen Tessiner und Deutschschweizer zusammen gestalten. Das Tessin kann sich noch stärker als Brücke zwischen dem Norden und dem Süden Europas positionieren – nicht nur kulturell, sondern vor allem wirtschaftlich. Man ist im lateinischen Raum, institutionell aber noch in der Schweiz. Das sind interessante Rahmenbedingungen für den Zugang zu den südeuropäischen Märkten.

War das Verhältnis zwischen dem Tessin und der Deutschschweiz früher anders oder gar besser?
Mit 34 Jahren bin ich zu jung, um das beurteilen zu können. Ich schaue in die Zukunft, und beide Seiten müssen sich trotz der vorhandenen Differenzen mit Respekt einander annähern. Klar, und dass spüre ich ganz konkret in Bundesbern, die ältere Generation der Deutschschweizer beherrscht eher noch ein wenig Italienisch. Wenn sie es geschafft haben, warum gelingt dies nicht auch der heutigen Jugend?

Braucht das Tessin eine Imagekorrektur – weg von Polenta, Grotto und Palmen?
Klischees sind Teil jeder Kultur. Die Deutschschweiz steht für Bratwurst, Rösti, Bise und Nebel! Ich sehe keine Notwendigkeit, solche Vorstellungen zu korrigieren. Viel wichtiger ist es, die Vielfalt der Schweiz nicht nur rhetorisch zu zelebrieren, sondern auch wirklich zu leben. Wie wäre es heute um die Vielfalt in der Schweiz bestellt, ohne den Respekt für Minderheiten?

Intervista a cura di Angelo Geninazzi pubblicata sul portale di comunicazione Influence.ch, 18.11.2016